Am 15. Januar 2019 verhandelte das Bundesverfassungsgericht eine Klage des Sozialgerichts Gotha. Es ging um die grundsätzliche Entscheidung, ob durch die Kürzungen des Arbeitslosengeld 2 „in das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes eingegriffen“ wird. Das Sozialgericht Gotha hält die Vorschrift der Sanktionen für verfassungswidrig. Im SGB 2 „sind Mitwirkungspflichten normiert, bei deren Verletzung das Arbeitslosengeld 2 in gestufter Höhe über einen starren Zeitraum von jeweils 3 Monaten gemindert wird.“
„Der Gesetzgeber habe das Existenzminimum mit der Entscheidung über die Höhe des Regelbedarfs fixiert; dies dürfe nicht unterschritten werden. Im Fall einer Leistungskürzung werde der Bedarf nicht gedeckt, obwohl er sich tatsächlich nicht geändert habe. Damit verletze der Gesetzgeber das Gebot, eine menschenwürdige Existenz jederzeit realistisch zu sichern.“ (komplette Pressemitteilung und Verhandlungsgliederung hier)
Wir sind mit 3 Aktiven aus unserer Initiative und einem Aktiven aus der Initiative Witzenhausen OWEI nach Karlsruhe zur Verhandlung gefahren.
Zur Verhandlung war vor dem Gebäude des Bundesverfassungserichts eine Kundgebung angemeldet, es fanden sich einige Initiativen und Aktive aus Partei, Gewerkschaft und Sozialverbänden. Auch wir waren mit unserem Transparent vor Ort. Zwei unserer Aktiven hatten im Vorfeld das Glück, einen Besucherplatz im Sitzungssaal zu bekommen und wir können daher ein wenig Einblick geben zu den Anwesenden, dem Ablauf der Verhandlung und unserer Einschätzung zum Ausgang der Entscheidung. Viele Journalisten und Fernsehteams waren anwesend.
Zu den Redner*innen die anwesend waren gehörte eine gute Mischung aus Vertretern der Bundesregierung, der Bundesanstalt für Arbeit, den Jobcentern, des BDA, des DGB und zahlreichen Sozialverbänden. Neben den Anwälten des Klägers und der Beklagten auch der Bundesminister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil, die Anwälte der Bundesregierung, vom Erwerbslosenverein Tacheles Harald Thomé, für den DGB Annelie Buntenbach, der Deutsche Städtetag, der Sozialgerichtstag und weitere zahlreiche Vertreter. Der Sitzungssaal war voll besetzt.
Bundesminister Hubertus Heil sprach sich dann ganz im Sinne der Bundesregierung für Sanktionen aus, gegen ein bedingungsloses Existenzminimum und rechtfertigte dies mit dem schon bekannten Format „Fordern und Fördern“, mit dem Sozialstaatsprinzip und mit der Solidargemeinschaft. Allgemeinplätze, die der Richtung der Bundesregierung entsprechen.
Der Anwalt der Bundesregierung wurde danach in 5 Schleifen versucht dazu zu bringen doch endlich genauer auf die Frage zu antworten, wie denn seiner Meinung nach die Menschenwürde im Kontext und in Bezug zu setzen ist zu einem Existenzminimum, das als Minimum doch schon definiert ist und ob es dann eine Grenze unterhalb der Grenze gäbe, wenn man ein eh schon bestehendes Minimum weiter runtersetzt. Er widersprach sich mehrmals mit dem Vorhaben natürlich den interpretierenden Fragen der Richter*innen zu widersprechen und er wurde gefragt, ob man ihn denn nun richtig verstehen würde, dass er Menschenwürde mit dem Leistungsprinzip gleichsetze.
Es wurden 3 Argumentationsebenen besprochen, einmal die Tatsache, wie denn die Menschenwürde im Kontext zu einem Existenzminimum steht und wie es zu rechtfertigen sei, dass dieses noch runtergesetzt wird, dann zum Zweiten die Mitwirkungspflichten allgemein und hierzu die Eingliederungsvereinbarungen, wie sinnvoll und wie individuell verhandelbar diese überhaupt sind, wenn doch viele Vereinbarungen offenbar Textbausteine oder komplett vorgefertigte Texte sind. Und zum Dritten, welchen Sinn die Sanktionen haben, welche Wirkung Sanktionen auf psychisch Erkrankte haben, und warum Sanktionen sogar diejenigen betreffen, die nachweislich überhaupt keinen Integrationsmehrwert haben, weil sie nicht in Arbeit kommen können.
Die Nachfragen und teilweise sehr guten Spitzen der Richter*innen in ihren zusammenfassenden Zwischenkommentaren waren klar erkennbar kritisch zu den Sanktionen und hatte dem Publikum das ein oder andere zustimmende Raunen und Kopfnicken entlockt. Ebenso wie die Äußerungen der Bundesregierung, des BDA und ja, kaum zu glauben und muss hier extra erwähnt werden, der Caritas, den Besuchern empörtes Kopfschütteln entlockte.
Auch die Online-Umfrage des Erwerbslosenvereins Tacheles, auf deren Befragung über 21 000 Menschen antworteten, kam zur Sprache. Die Ergebnisse dieser Befragung können hier https://tacheles-sozialhilfe.de/startseite/aktuelles/d/n/2461/ nachgelesen werden.
Wir schätzen den Ausgang der Verhandlung so ein, dass die 100% Sanktionen komplett rausgenommen werden und die 60% Sanktionen die dann weggefallenen 100% ersetzen. Kurz bevor wir die Verhandlung verließen, war gerade eine erste Phase der Entscheidungsfindung und Kompromissphase.
Allerdings gilt diese Verhandlung und die dann gefällte Entscheidung nur für Personen ab 25 Jahre. Die heftigen und repressiven Sanktionen für unter 25 jährige war leider kein Gegenstand der Verhandlung.
Noch dazu anmerken möchten wir sinngemäß ein Zitat einer der Richter*Innen, dem wir uns anschließen:
Wenn die Bundesregierung gerne mal empirische Daten aus der Realität möchte, sollte sie sich eher an die Initiativen und Sozialverbände wenden.
Alles in allem hochspannend und mit teilweise sehr guter Argumentation!
Bleibt abzuwarten, was die Richter*Innen denn nun entscheiden.